Die Wüste lebt

Von der Brache zur Waldlandschaft

Die Wüste lebt

Rund fünf Mio. Menschen leben zwischen Duisburg und Dortmund, das entspricht im Durchschnitt 1.200 Einwohnern pro Quadratkilometer, und das ist gar nicht mal viel, wenn man sich andere Metropoloregionen der Welt ansieht.

Dieser geringe Wert hat seinen Grund, und wer durchs Revier fährt, kann ihn ahnen: Etwa 8000 ha Fläche mitten im Ruhrgebiet sind menschenleere Bergbauhalden und Industriebrachen. Sie entstanden, weil vor einigen Jahrzehnten billige Importkohle aus Übersee und mehrere Kohle- und Stahl-Krisen fast alle Kohle-Zechen und Hüttenbetriebe zur Aufgabe zwangen. Aber menschenleer heißt keinesfalls leblos. Im Gegenteil: Auf manchen dieser „vergessenen“ Flächen tobt das Leben!

Wüste wird Wald

Vor einigen Jahrzehnten, kurz nach der Aufgabe der Zechen, Hütten und sonstiger Industrie, war der Boden noch kahl. Reste von Industriefundamenten und steiniger, festgefahrener Boden ließen das Pflanzenwachstum oft auf großer Fläche nur sehr, sehr langsam aufkommen. Noch nach Jahren erinnerten solche Brachflächen eher an eine lebensfeindliche Wüste oder die Oberfläche eines fremden Planeten.

Der kahle Boden, im Sommer glühend heiß und im Winter eiskalt dem Frost und dem Wind ausgesetzt, ermöglichte nur spezialisierten Moosen, Flechten und ersten Gräsern ein karges Pionierdasein.

Aber genau diese Pioniere waren es, die eine erste dünne Humusschicht bilden. Je dicker diese im Laufe der Zeit wurde, desto mehr höhere Pflanzen konnten Fuß fassen – die Brache wuchs am Ende fast völlig zu.

Erst Pflanzen, dann Tiere

Wo es eine wüstenähnliche Landschaft gibt, kommen auch die entsprechenden Bewohner hinzu. Moose, Flechten und einige ganz hartgesottene Pflanzen sind die Ersten, die bereits unmittelbar nach Aufgabe der Zechen und Fabriken den Boden auf ganzer Fläche besiedeln. Kurze Zeit später sind auch die ersten Pioniere der Blütenpflanzen da, beispielsweise der gelb blühende Mauerpfeffer, der blau blühende Natternkopf oder das weitgereiste, ebenfalls gelb blühende Schmalblättrige Greiskraut aus Südafrika. Sie alle verwandeln die „Wüste“ in den Monaten Mai bis Juli oft in eine bunte Blütenpracht.

Erst dann kommen auch die spezialisierten Tiere auf das Gelände wie zum Beispiel die Ödlandschrecken aus dem Süden Europas, von denen sogar zwei Arten im Ruhrgebiet vorkommen Selbst spezielle Vogelarten nutzen diese anfänglich wüstenhaften Entwicklungsstadien der Halden und Brachflächen: Flussregenpfeifer und Kiebitze nutzen sie, um ihre Jungen aufzuziehen, Steinschmätzer nutzen sie als Rastplatz auf ihrem weiten Vogelzug.

Diese jungen Industriebrachen und Halden sind aus zwei Gründen nur „Wohnungen auf Zeit“: Denn entweder werden sie wieder bebaut oder sie entwickeln sich irgendwann weiter zum Wald. Ein gutes Beispiel hierfür ist bzw. war die Brachfläche, auf der die Stadt Oberhausen heute ihre „Neue Mitte“ hat, auf dem Gelände der riesigen CentrO Einkaufsgalerie.

Der Kiebitz brütet mittlerweile auch auf Brachflächen im Ruhrgebiet. Setzen ihm frei umherlaufende Hunde nicht zu sehr zu, bekommt er auf Industriebrachen seine Jungen besser groß als auf den intensiv genutzten Äckern und Futtergras-Wiesen vor den Toren des Ruhrgebiets.

Mensch auf alten Brachen

Viele ehemalige Halden und Brachflächen im Ruhrgebiet dienen mittlerweile der Naherholung. Sie sind von Wanderwegen durchzogen, Büsche, Bäume und Baumgruppen, manchmal auch kleine Wäldchen wechseln sich mit offenen Wiesen ab, die als Liegewiese oder Bolzplatz genutzt werden. Und neben den Zweibeinern sind hier fast alle Pflanzen und Tierarten innerstädtischer Parklandschaften zu Hause: Gras- und Wasserfrösche, Molche und Kröten, viele Wald- und fast alle Gartenvögel, die üblichen Stadtsäugetiere wie Eichhörnchen, Igel, Kaninchen, Füchse sowie die häufigeren Fledermausarten.

Für die Artenvielfalt sind solche Parkflächen sehr gut! Denn im Gegensatz zum landwirtschaftlichen Raum vor den Toren des Ruhrgebiets leben hier deutlich mehr Pflanzen- und Tierarten.

Am Ende Wald

Wird solch eine Parklandschaft irgendwann nicht mehr gepflegt, wächst sie allmählich und vollständig mit Bäumen zu. Doch die Wälder, die auf Brachen entstehen, sind ganz anders als diejenigen auf natürlichen Standorten.

Sie sind echte Pionierwälder, denn nach Aufgabe der Zechen, Kokereien und Stahlwerke gab es vor Ihnen noch keinen Baum. Meist prägen dann Birken das Bild, die zum Wachsen weder guten Waldboden, noch Humus oder eine gleichbleibend gute Wasserversorgung benötigen.

Nach der Birke ist der zweite Baum-Pionier die Robinie (Robinia pseudacacia), auch sie ist hartgesotten und anspruchslos. Mitten in Essen liegt das stillgelegte Zechengelände Zollverein, das heute ein berühmtes Kulturdenkmal ist. Hier wächst auf einer knapp 15 Meter hohen Abraumhalde einer der ältesten Robinienwälder des Ruhrgebietes, und es ist ein Urwald: Umgefallene Stämme, eingenommen von mächtigen Farnen, bilden ein scheinbar undurchdringliches Dickicht. Für Vogelkundler ist es ein besonderer Ort: Im Frühsommer können sie den Gesang eines kleinen unscheinbaren Singvogels hören, den Waldlaubsänger.

Wie die weitere Waldentwicklung dieser Robinien-Halde in den kommenden Jahrzehnten abläuft, ist noch ungewiss. Wenn die Humusentwicklung weiter voranschreitet und die Wasserversorgung gleich bleibt, könnte an der Stelle des heutigen Robinien-Pionierwaldes irgendwann ein Eichen- oder Buchenwald stehen. Erste Keimlinge tief unten im Unterholz deuten heute schon auf diese künftige Entwicklung hin.

Vielfalt macht stark

Schon heute übersteigt die Zahl der im Ruhrgebiet wild lebenden Pflanzen, Pilze und Tiere bei Weitem die Zahl der Arten in einer durchschnittlich landwirtschaftlich genutzten Fläche in anderen Teilen Deutschlands. Kein Wunder, denn Dünge- und Schädlingsbekämpfungsmittel, jährliches Pflügen und anschließendes neu Einsäen findet auf den Halden und Brachflächen des Ruhrgebiets nicht statt.

Alle drei Stadien sind für das Klima des Ballungsraums Ruhrgebiet wichtig. Besonders die Parklandschaften sind Flächen für die Naherholung, die viele Menschen zu Fuß oder mit dem Rad erreichen können!

 

Text: Peter Schütz, Volker Kienast

Alle Bilder: © Wildes Ruhrgebiet – Peter Schütz